Albtraum in Medellín
“Manchmal passiert es in einem Wimpernschlag. Ein Moment, in diesem Fall ein Knall wie Feuerwerk – und nichts ist mehr, wie es war.”
Medellín, Kolumbien. Eine Stadt, die einst als eine der gefährlichsten der Welt galt, doch sich in den letzten Jahren zu einem aufstrebenden Hotspot für Reisende entwickelt hat, ist es immer noch, gefährlich. Man redet nur nicht mehr darüber. Man ist auf die Touristen angewiesen. Und doch liebten wir es hier – das pulsierende Leben, die Wärme der Menschen, die lebhaften Viertel, und überall waren Hunde erlaubt. Das liebte ich am meisten. In den Malls, in den Restaurants. An diesem Nachmittag waren wir unterwegs zu einem Restaurant in Laureles, nichtsahnend, dass dieser Tag, dieser Spaziergang, unser Leben für immer verändern würde.
Es war eine dieser warmen Tage, und die Luft roch nach Früchten und Abgasen. Immer stank es in Medellin nach Abgasen. Die Straßen waren leer, das war ungewöhnlich. Wir unterhielten uns lachend. Wir waren glücklich und ahnten nicht, dass sich gleich alles ändern würde.
Dann geschah es.
Vor uns, kaum zehn Meter entfernt, eine ältere Dame. Sie trug eine Handtasche, hielt sie fest an sich. Ein junger Kerl tauchte plötzlich aus dem Nichts auf, riss an der Tasche. Sie schrie auf, klammerte sich daran fest.
Bevor ich reagieren konnte, und ihn zurückhalten konnte, hatte Manuel bereits gehandelt.
Er stürzte sich auf den Typen, um der Frau zu helfen. Und ich wusste, etwas Schreckliches würde passieren. Dann hörte ich den Schuss.
Ein einziger, lauter Knall.
“Das Leben kann sich in einer Sekunde ändern. In einem Atemzug. Zwischen einem Herzschlag und dem nächsten.” Ich glaube, der Moment war noch kürzer.
Für einen Moment schien die Welt stillzustehen. Dann sah der Kerl mich an, ich sah die Augen, ich sah die Waffe und dann sah ich ihn davon rennen.
Mein Freund taumelte zurück.
Ich sah, wie er sich an den Bauch fasste. Er hatte ein Loch in seinem Bauch. Seine Augen weiteten sich, er begriff es nicht. Er stand unter Schock.
Ich hörte nicht, was die alte Dame sagte. Ich hörte nichts mehr. Mein Blick fiel auf Manuel. Er stand noch. Wankte. Seine Hände zitterten. Und dann, langsam, sackte er in sich zusammen.
Ein Loch in seinem Bauch. Glatter Durchschuss.
Es war so surreal. Wie in einem schlechten Film.
“Du denkst immer, du hast Zeit. Zeit zu planen, Zeit zu entscheiden, Zeit zu leben. Bis dir das Leben zeigt, dass es auch anders kann. Das du keine Zeit hast. Was würden unsere Entscheidungen aussehen, wenn wir wüssten, dass wir keine Zeit haben. Das alles begrenzt ist. Das wir nur das Jetzt haben.”
Chaos, Angst und eine tickende Uhr
Menschen rannten herbei. Stimmen, Rufe, Panik. Ich kniete mich neben Manuel. Seine Hände waren kalt, sein Gesicht blass.
Ich schrie nach einem Krankenwagen. Irgendjemand rief ihn.
„20 Minuten.“
Das war die Antwort. Zwanzig Minuten würde es dauern, bis die Ambulanz kommt.
Ich wusste: Zwanzig Minuten haben wir nicht.
Ich rief nach einem Taxi. Vergeblich. Keiner wollte anhalten. Vielleicht hatten sie Angst, vielleicht war es ihnen egal.
Dann die Polizei – auf Mopeds.
Zwei Beamte sprangen ab, sahen Manuel, verstanden sofort. Sie organisierten ein Taxi, hielten es mitten auf der Straße an. Die Türen flogen auf, wir mussten handeln.
Ich sprang nach vorne, Manuel wurde mit Hilfe der Polizisten auf den Rücksitz gesetzt.
Dann begann die verrückteste Fahrt meines Lebens.
Die Polizei raste vor uns her, sicherte den Weg, hupte, schrie, hielt Autos an, winkte uns durch. Wir flogen durch die Straßen Medellíns. Einmal wäre unser Taxi beinahe mit einem Polizeimotorrad kollidiert.
Und Manuel? Saß hinten, blass, aber ruhig, mit dem Loch in seinem Bauch. So ruhig, dass es mir Angst machte. Ich bin in einem schlechten Film gelandet, dachte ich. Kurz bevor wir ankamen, zählte er noch das Geld für den Fahrer ab. Der Fahrer gab ihm Wechselgeld. Beide standen wohl unter Schock.
“Adrenalin macht aus Menschen Maschinen. Es lässt dich handeln, ohne zu fühlen. Bis die Stille kommt. Für mich war es gut. Ohne hätte ich das alles nicht handhaben können.”
Das Krankenhaus – Blut, Chaos, Leben und Tod
Kaum angekommen, rissen uns Ärzte Manuel aus den Händen. Ich blieb zurück.
Seine blutigen Klamotten in meinen Armen.
Ich stand da. Unter Schock.
Dann begann ich mich umzusehen.
Die Notaufnahme war voller Menschen mit Schusswunden.
Ein junger Mann, vielleicht ein Gangmitglied, saß blutüberströmt in einem Rollstuhl. Sie hatten ihn einfach an die Wand geschoben.
Ich dachte noch: Der braucht dringend Hilfe.
Doch dann bemerkte ich: er brauchte keine mehr.
Ein Team wurde mir zur Seite gestellt: Eine Übersetzerin, eine Psychologin, ein Berater, ein Fahrer. Sie redeten auf mich ein, versuchten mich abzulenken. Drei Stunden lang. Drei Stunden, in denen Manuel operiert wurde.
Dann endlich – die erlösende Nachricht.
Er hatte es überstanden.
“Manchmal überlebt man Dinge, von denen man nie dachte, dass man sie überleben könnte.”
Mitternacht – Allein mit dem Trauma
Fast Mitternacht. Ich wurde nach Hause gebracht.
„Sie sind unglaublich stark“, sagten sie.
Doch ich wusste: Ich war einfach nur im Schock.
Dann endlich allein.
Stille.
Und plötzlich brach alles über mich herein.
Ich sah ihn überall. Den Täter. Seine Waffe. Seine Augen.
Ich glitt auf den Boden. Und weinte.
“Du kannst einen Moment überleben. Doch wie überlebst du die Erinnerungen?”
Fortsetzung folgt…